Wandrer, oder „Wie ich die Welt neu entdecke“

Hallo, mein Name ist Martin und ich bin süchtig! Doch ich bin nicht bei den Anonymen Alkoholikern oder am Weg zur Drogensucht sondern in einem Strava Forum, in dem es um eine Software namens „Wandrer“ geht.

Ehrlicherweise war ich schon immer für Gamification zu haben und wenn es Achievements und Level-Ups zu erreichen gibt, dann spornt mich das an. Auf der anderen Seite habe ich seit meiner Kindheit eine besondere Vorliebe für Karten, schmökere heute noch gerne im Atlas und reise im Geiste durch bekannte und unbekannte Lande. Kombiniert man diese beiden Dinge, hat man jedenfalls ein Rezept gefunden, um mich glücklich zu machen und die Art und Weise, wie ich Rad fahre, maßgeblich zu beeinflussen.

Wie eine dieser Landkarten, bei denen man jene Länder, in denen man schon war, freirubbeln kann, markiert Wandrer jene Straßen und Wege, auf denen man bereits unterwegs war. Strava tut dies grundsätzlich auch und generiert daraus die hübschen „Heatmaps“, auf denen ein Weg stärker eingefärbt wird, je öfter man dort unterwegs ist oder war. Dem „Wandrer“ ist gleichgültig, wie oft man wo unterwegs war - es zählt nur, dass man dort schon einmal gefahren ist. Dann markiert das Programm die Straße und „malt“ sie quasi an, wie man das auf einer analogen Karte vielleicht auch machen würde. Auf diesem Weg malt man nun seine Umgebung an, die Strecken, auf denen man regelmäßig unterwegs ist und die man im Urlaub findet. So weit so gut, bis hierher ist das Ganze noch nicht wirklich neu oder revolutionär...

Gamification & Leaderboards

An dieser Stelle kommt eine gehörige Portion Jagd- und Spieltrieb dazu. Straßen und Wege, auf denen man noch nicht unterwegs war, lechzen förmlich danach, befahren und auf diese Art und Weise „markiert“ zu werden. Für befahrene Straßen gibt es Punkte, Leaderboards je Bezirk und Land motivieren dazu, den nächstbesten Platz zu erreichen. KOMs waren gestern, was hier zählt, sind befahrene Straßen.

Auf diesem Weg erfährt man, dass beispielsweise Wien knapp über 4.000 Kilometer Straßen und Wege hat, die man mit dem Rad befahren kann - 1.300 davon habe ich schon. Meinen ehemaligen Heimatort Baden habe ich auch ganz gut markiert, meine zweite Heimat im wunderbaren Osttirol ist auch schon recht gut erkundet. Es zählen sowohl Straßen als auch unbefestigte Wege, als Datenbasis dienen die diversen Radfahrkarten, allen voran die Open Street Map fürs Radfahren. Die Kartendarstellungen laden - wie auch schon die Strava Heatmaps - zum Schmökern ein, zum Nacherleben von schönen Touren und zum Träumen von neuen Routen und Strecken. Damit man auch sicher weiß, wo es noch neue Wege zu entdecken gibt, kann man sich auch nur diese anzeigen lassen. Dann wird der Kartenausschnitt in ein dichtes Netz aus roten Strichen getaucht und plötzlich hat man tausende Varianten vor sich, wie man seine nächste Tour anlegen könnte.

Altes & Neues entdecken

Und genau hier liegt für mich der einzigartige Reiz und Mehrwert von Wandrer. Sicher muss man sich darauf einlassen und der Jagd nach Bestzeiten ist diese Art und Weise des Radfahrens vermutlich auch nicht wirklich zuträglich. Wer sich jedoch der Langsamkeit und den unendlichen Möglichkeiten hingibt, findet eine Einladung vor, Altes und Neues gleichermaßen zu entdecken. Es werden wohl auch nicht immer die schönsten Wege sein, die romantischsten Ecken der Stadt oder die verkehrsärmsten und pittoresken Straßen. Aber es wird jedenfalls eine Erweiterung des Horizonts sein, wenn man gleich neben dem eigenen Wohnblock ein neues Eck der Stadt entdeckt, wenn man einen anderen Bezirk kennenlernt, seine Meinung über eine Region ändert, weil man einen anderen Blick darauf gewinnt oder aber einfach weil man eine neue Variabilität in der Routenplanung dazugewinnt.

Die Hausrunde oder die Tour, die man immer und immer wieder nach der Arbeit fährt, kann durch etwas Inspiration und Trial & Error schnell einmal aufgefrischt oder spannender gestaltet werden. Neue Regionen kann man ganz anders kennenlernen, wenn man gleich von Beginn an auf eine möglichst breite Herangehensweise setzt. Und auch die tägliche Fahrt ins Büro oder zum Radgeschäft kann man durch ein paar neue Straßen und Wege aufpeppen. Und für mich waren es tatsächlich die Fahrten mit meinem Sohn im Lastenrad während des ersten Corona-Lockdowns, die den Beginn dieser Liebesbeziehung markiert haben. Da waren wir gemeinsam unterwegs in der näheren Umgebung und eigentlich im eigenen Bezirk. Aber auch da konnte man durch etwas Variation und das eine oder andere Abbiegen vom bekannten Weg eine neue Welt entdecken. Und so fährt man durch die Gegend, erweitert seinen Horizont und sammelt dabei auch noch Punkte in einem unterhaltsamen Spiel!

Funktionsweise

Wandrer ist ein Add-On, dass grundsätzlich an einen Strava-Account gekoppelt ist. Lädt man eine Ausfahrt auf Strava hoch, analysiert Wandrer automatisch und im Hintergrund, welche Abschnitte dabei neu gefahren wurden. Man erhält einen Kilometerwert bezogen auf die gesamte Ausfahrt und gleich auch aufgedröselt nach den Bezirken und Regionen, die man durchquert hat. Es gibt Punkte für jedes Prozent eines Bezirks, das man „anmalen“ kann, ab einer gewissen Schwelle (25, 50 und 75% eines Bezirks) erhöhen sich die Punkte noch zusätzlich. Es gibt monatliche Leaderboards in denen nach absoluten Werten und nach dem monatlichen Zuwachs gewertet wird. Zu gewinnen gibt es natürlich nichts, außer einem Haufen neuer Wege, Erfahrungen und Impressionen.

Die Anmeldung ist grundsätzlich gratis, einziges Problem dabei ist allerdings, dass Wandrer in der Free-Version nur die letzten 50 Rides auf Strava nachführt. Alles was davor passiert ist, - die Erkundungen der Umgebung, die Fahrten im Urlaub, das Trainingslager auf Mallorca - werden auf der Übersichtskarte nicht aufscheinen. Und so wie „wir“ Karten- und Datennerds ticken, wird das irgendwann stören. Beheben kann man diesen Umstand durch ein Upgrade auf die „Vollversion“, die mit 30 US-Dollar pro Jahr zu Buche schlägt. Dafür erhält man dann die volle „History“ aller Ausfahrten und den vollständigen Katalog all jener Strecken, die man in seinem Strava-Leben bereits unter der Reifen genommen hat. Und mir geht es dann so, dass ich ab und zu die große Karte aufmache, darauf herumscrolle und -klicke und mich bei jedem Strich an die entsprechende Ausfahrt erinnere!

Integration in den Alltag

Je nachdem wie intensiv man sich mit Wandrer auseinandersetzen möchte, bietet die Software noch eine weitere Integrationsmöglichkeit. So kann die aktuelle eigene Karte - inkl. der Information, ob man dort schon gefahren ist oder nicht - auf den Radcomputer geladen werden. So hat man während des Fahrens in der Kartenansicht des Wahoo oder Garmin einen eindeutigen Indikator, ob man auf einer bekannten oder einer neuen Strecke unterwegs ist. Auf diese Weise macht das Anmalen noch einmal mehr Spaß und man erforscht quasi „on-the-go“.

Alles was farbig markiert ist, “fehlt” noch!

Schwächen

Bleiben wir kurz beim Aufspielen der Karte auf den Radcomputer. Das ist leider etwas kompliziert und umständlich und muss - sofern man es tagesaktuell haben möchte - immer neu aufgespielt werden. Zumindest der Wahoo merkt sich nicht, welche neuen Strecken angemalt wurden bzw. aktualisiert die Karte im Hintergrund nicht entsprechend. Man braucht hier also wahre Dedication, wenn man so unterwegs sein möchte.

Was leider auch (noch?) nicht geht, ist die Wandrer Maps irgendwie in die Routenplanung einzubinden. Wenn man auf Komoot oder Strava eine Route plant, muss man sich nebenbei die Wandrer-Map aufmachen, um zu kontrollieren, ob man dort schon einmal gefahren ist oder nicht. Hier wäre großartig, wenn man die Wandrer-Karte quasi als Hintergrund einblenden kann.

Man spürt aber, dass die Macher von Wandrer sehr bemüht sind, laufend Verbesserungen und Erweiterungen zu liefern. Gleichzeitig ist aber sichtbar, dass es sich wohl eher um eine One Man Show handelt als um eine große Firma. Mit seiner Unterstützung für Wandrer hilft man also auch weiter, das Produkt zu entwickeln. Und es gibt schon noch einige Bereiche, in denen die Software besser werden könnte, auch wenn ich spontan nicht weiß, wie man bestimmte Dilemma auflösen könnte. Beispielsweise die Kartengrundlage, die - gemäß Kategorisierung der Straßen im Hintergrund - glaubt, dass eine Autobahnauffahrt bis zum „Autobahn“-Schild auch tatsächlich mit dem Rad befahren werden kann. Aber dass man ab und zu schräg angeschaut wird, daran wird man sich als enthusiastischer Wandrer-User ohnehin gewöhnen (müssen) - warum fährt man sonst in einsamen Wohngebieten im Kreis, fährt Sackgassen bis zum Ende aus oder kommt nun schon zum dritten Mal am gleichen Kaffeehaus vorbei, in dem die Gäste sich nun schon an den Rennradfahrer erinnern, der hier seine seltsamen Bahnen zieht...

Mehr als nur Punkte und Striche

In einer Mischung aus Corona, Gravel-Enthusiasmus und Entdeckungslust hat sich mein Fokus dieses Jahr auf „interessant“ verschoben, weg von „schnell“. Nicht, dass ich davor besonders schnell unterwegs gewesen wäre oder haufenweise KOMs innegehabt hätte... Und ich fahre natürlich noch immer gerne flott und gleite gerne mit dem Rennrad über die Straßen. Aber die Entdeckung neuer Ecken, das Kennenlernen und Abenteuer wird in meinem Radler-Leben immer wichtiger. Und genau dabei unterstützt mich Wandrer und ich liebe es, eine Straße nach der anderen „anzumalen“. Hallo, ich bin Martin und ich bin Wandrer-süchtig. Und glücklich damit!

Fehlen nur noch die restlichen 99,98 Prozent der Welt :)