Christi Himmelfahrtskommando

Ich stehe auf der Liste für ein Unsupported Ultra-Event im Juli. Dass man bei so einer Veranstaltung weit fahren muss und mehrere Tage in Folge, war mir immer klar und eine gewisse Grundfitness sollte ich haben. Gleichzeitig bin ich mit einer recht großen Portion Optimismus ausgestattet und gehe eher unehrgeizig an Dinge heran und beim Radfahren habe ich mir in den letzten Jahren angewöhnt, das Erlebnis in den Mittelpunkt zu stellen und Leistung und Geschwindigkeit ein Stück weit bewusst in den Hintergrund zu drängen. Dazu hat vielleicht auch mein Familienleben beigetragen – mit zwei Kindern ist die Einteilung der Zeit ohnehin schon eine Challenge, sich dann auch noch in der verbleibenden Zeit selbst zu stressen, ist in meinen Augen nicht erstrebenswert.

Auf jeden Fall habe ich die letzten Wochen und Monate immer gerne mit der Routenplanung und Equipmentsuche für das Event im Juli verbracht und auf ein zielgerichtetes Training dabei aber eher verzichtet. Bis zu dem Zeitpunkt als ich mir vor ein paar Wochen eine Art Marschtabelle zusammengebastelt habe und dort plötzlich stand, dass ich zum Erreichen der Karenzzeit mindestens 238km und knapp 3.700 Höhenmeter fahren müsste – und das zehn Tage in Folge! Die Wochenenden im Mai und Juni mit Fenstertagen und Feiertagen und die steigenden Temperaturen legten eine kleine Testfahrt nahe, um Mensch und Material an diesen Anforderungen zu messen – und so wurde aus Christi Himmelfahrt kurzerhand das „Christi Himmelfahrtskommando“!

Tourenplanung

Als Startpunkt war schnell Lienz in Osttirol festgelegt, wenn die Familie dort gleichzeitig Urlaub machen kann, ist mein schlechtes Gewissen etwas kleiner, drei Tage nur mit Radeln zu verbringen. Zuerst war eine Tour nach Slowenien zu meinen Sehnsuchtsbergen Vrsic und Mangart und ein Besuch beim Giro d´Italia geplant. Mit einer miserablen Wettervorhersage wurde es im zweiten Versuch eine Tour zu einer anderen Giro-Etappe, diesmal rund um Belluno mit einer Befahrung eines anderen Sehnsuchtsbergs, des Monte Grappa. Aber auch da zogen tags darauf dicke Regenwolken über die Vorhersagekarte und so wurde abermals umgeplant – auf eine Runde durch Österreich und Südtirol. Glücklicherweise gibt es ja einen Haufen Möglichkeiten.

Equipment

Bei der Ausrüstung wollte ich jenes Equipment mitnehmen und testen, das auch für Juli vorgesehen war: die BMC Roadmachine, die dank Gravellenker mit Flare, Aufliegern und gemütlicher Sitzposition nur mehr bedingt etwas mit einem sportlichen Rennrad zu tun hat. Mein Gepäcksystem von Tailfin, das Schlaf-Equipment mit Biwaksack, Matte und Schlafsack und ein paar andere Dinge noch zusätzlich – aber dazu wird es noch eine gesonderte Geschichte geben…

Christi Himmelfahrtskommando

Etappe 1: auf den Spuren des Race Around Austria

Lienz, 6:30 morgens. Dicke Nebelwolken hängen im Tal und die Bergspitzen haben sich versteckt. Während man bei einem solchen Anblick normalerweise die Decke noch einmal über die Nasenspitze zieht und sich gemütlich umdreht, habe ich eine Mission zu erfüllen und einen Zeitplan. Außerdem habe ich mich gefühlte hundert Mal vergewissert, dass es nicht regnen wird und über den niedrig hängenden Wolken auch der eine oder andere Sonnenstrahl auf mich warten sollte. Regenjacke an, Schuhe an, Flaschen füllen und los. Ich mag das Losfahren am Morgen, wenn Körper und Geist eigentlich noch im Bett sind und man wie automatisiert vor sich hin tritt. Tempo soll in den nächsten Tagen sowieso nicht die maßgebliche Größe sein, es geht ums Weiterkommen, um stetiges In-Bewegung-Bleiben, daher brauche ich mich nicht zu stressen.

Aus Lienz geht’s über den Iselsberg, mit einem an sich wunderbaren Ausblick auf die Lienzer Dolomiten (die allerdings hier gerade im Nebel versinken), aber mit einer grauslichen Steigung und langen und breiten Geraden, die das Fortkommen noch langsamer erscheinen lassen. Glücklicherweise ist der Verkehr an einem Feiertag um 7:00 früh vernachlässigbar – hier habe ich aber auch schon bei 30 Grad in der Sonne und mit massivem Urlaubsverkehr mit jedem Meter Steigung gekämpft. Es nieselt kurz aus dem Nebel aber man merkt, dass es Ende Mai glücklicherweise schon eine gewisse Grundtemperatur hat. Hinunter nach Winklern, hinein ins Mölltal, ab Richtung Großglockner. Die Anfahrt zum Glockner erarbeitet man sich nach und nach, man gewinnt langsam an Höhe, sieht die Berge am Talschluss immer weiter wachsen – Mörtschach, Großkirchheim, Rojach. Ab Pockhorn beginnt die eigentliche Kletterei und hinter der ersten Kurve erblickt man die ikonische Kirche von Heiligenblut, hinter der man die Spitze des Großglockners erkennen kann, sofern sich nicht – wie so oft – in einem Wölkchen versteckt ist.

Die Strecke und auch die Herausforderungen bis zum Hochtor auf knapp über 2.500 Metern sind bekannt – knackiger Anstieg direkt aus Heiligenblut hinaus, kurze Ruhepause vor der Mautstation, gleich danach herausfordernde Rampen bis zum Kasereck, kurze Zwischenabfahrt bis zum Kreisverkehr (wo man zur Franz-Josefs-Höhe abbiegen kann), danach böse Steigungsprozente eigentlich durchgehend bis zum Hochtor. Ich habe mir am Vortag der Tour bei PBike noch ein 36er-Ritzel montieren lassen – ein Glücksgriff, wie ich bereits auf den ersten Metern erkennen darf. Denn zusätzlich zu meinem – durchaus noch optimierbaren – Körpergewicht schleppe ich knappe 6 Kilo an Equipment mit mir auf den Berg. Auch wenn ich im Vorfeld versucht habe, Dinge zu optimieren, den einen oder anderen Spontankauf getätigt habe und auch immer wieder Dinge wieder ausgepackt habe – auch die kleinen Dinge summieren sich zu einem signifikanten Gesamtgewicht, mit dem man dann Meter für Meter hadert.

Es geht dafür erstaunlich gut bergauf - die großartige Glockner-Landschaft, die im Sonnenschein schon den Atem raubt, offenbart bei wechselnden Bedingungen, Nebel und Wolken erst ihre spannenden Seiten. Das durfte ich auch schon bei diversen Race Around Austrias als Fotograf am Glockner miterleben. Am Hochtor ein schnelles Foto vom „Pass-Schild“ gemacht, im Hintergrund nur Nebel und Wolken, dann hinein in den eiskalten Tunnel und hinunter zum Mankei-Wirt, dort (vermutlich) ins Radar gefahren (mea maxima culpa!), und hinauf zum Fuschertörl. Bis zum Hochtor war ich quasi alleine am Glockner, hier ist plötzlich Völkerwanderung und auch ganze Heerscharen und Gruppen von Radlerinnen und Radlern bevölkern plötzlich die Straßen. Der Exkurs zur Edelweißspitze über den vermutlich höchstgelegenen Secteur Pavé der Welt gestaltet sich dementsprechend kurz – Fotos machen, Jacke anziehen und los! Die Abfahrt ist natürlich ein Traum - man kann es laufen lassen, muss aber nicht, kann die Ausblicke genießen, muss seine Bremsen managen (vor allem wenn man so viel Gewicht mit sich herumschleppt) und absolviert in 10 Minuten den gleichen Höhenunterschied, für den man auf der anderen Seite bergauf gut 2 Stunden gebraucht hat. Ferleiten, Fusch, Bruck – kommt und geht alles sehr schnell und hinterlässt – bei mir zumindest – wie immer keinen bleibenden Eindruck.

In Bruck an der Glocknerstraße geht es nach links und für die nächsten Kilometer ist die Salzach mein Begleiter. Und diese Kilometer haben etwas versöhnendes, hatte ich doch bis dato immer ein bisschen ein Problem mit der Gegend. Zu oft bin ich hier schon mit dem Auto durchgefahren, vor allem im Sommer (wiederum auch für das Race Around Austria um zu fotografieren) und immer war es eine Qual auf der Bundesstraße zwischen „zu viel los“, wahnsinnigen Urlaubsautofahrern und Staus rund um Zell am See. Und aus dem Auto nimmt man zwar eine gewisse Schönheit der Natur rechts und links an den Berghängen wahr, aber das wars dann auch schon. Auf dem Rad und vor allem auf dem wunderbar ruhigen Radweg, der größtenteils weit abseits der berüchtigten Bundesstraße verläuft, wird man aber eben versöhnt, bekommt neue Perspektiven präsentiert, ist in eine passenden Geschwindigkeit unterwegs, um die Landschaft, die Orte und die Menschen zu sehen und zu „erfahren“. Apropos Race Around Austria: Erst hier, Stunden nach meinem Start dämmert mir, dass ich – tatsächlich ungeplanterweise – auf der Route des langen Race Around Austria unterwegs bin und noch länger sein werde. Diese befährt natürlich andere Straßen und direktere Wege, aber die Grundrichtung ist die gleiche und auch die Berge und Pässe sind es.

Ab Mittersill (Tankstelle für Verpflegung!) verlässt mich die Lieblichkeit, das Tal wird enger, schroffer, wilder und irgendwann vor Krimml auch steiler. Links lässt sich der Großvenediger mit seinem Massiv erahnen – da wartet dieses Jahr noch ein anderes Projekt auf mich! In Wald im Pinzgau könnte man den „Shortcut“ Richtung Gerlos nehmen, ich entscheide mich für die Auffahrt über Krimml, vorbei an den berühmten Wasserfällen. Der Anstieg ist länger und anstrengender als gedacht, auch wenn man den bereits absolvierten Glockner aus den Beinen „rausrechnet“. Vorbei an Stausee, Gerlos und Gmünd geht es Richtung Zillertal, über eine tolle Flow-Abfahrt geht es hinunter nach Zell am Ziller und es tut sich nicht nur landschaftlich sondern auch abschnittstechnisch ein neues Kapitel auf. Das tolle an langen Ausfahrten von A nach B sind ja die Bereiche und Abschnitte, die man zurücklegt und durchwandert, die unterschiedlichen Charakteristika, die sich am Weg auftun, die Wechsel und Übergänge, die man hautnah erlebt.

Auch das Zillertal ist so ein Kandidat – kennt man vermutlich von der (teils fürchterlichen) Bundesstraße im Urlaubsverkehr, bietet rechts und links davon allerdings wunderbare Ein- und Ausblicke, ruhige Wiesen, sanfte Wellen und versteckte Kleinode. Die schönste Variante soll dem Vernehmen nach ja die Zillertaler Höhenstraße sein, aber dafür fehlen mir Zeit und Kraft – ein andermal dann! Bei Fügen habe ich die 200 Kilometer geknackt, das war das Tagesziel, alles was weiter geht, spare ich mir an den nächsten Tagen. Die Beine können und wollen noch weiter, also hole ich mir in Jenbach eine Pizza, esse eine Hälfte davon gleich, die andere ein paar Kilometer weiter am Innufer in Schwaz. Und dank Koffein und guter Lampe am Rad geht es noch bis knapp 22:00 weiter, entlang des Inns und daneben auf Begleitwegen der Inntal-Eisenbahnstrecke bis es an die Suche eines geeigneten Schlafplatzes geht. Für mich war (und ist) das immer eine der größten Herausforderungen – draußen schlafen, biwakieren, sich aussetzen (der Natur und anderen potentiellen „Gefahren“). In der Kantine des Fußballplatzes in Baumkirchen gehen gerade die Lichter aus, ich interpretiere das als Angebot, um die Ecke am Rand des Spielfeldes – geschützt durch ein großzügiges Vordach – mein Lager aufzuschlagen. Ende Mai können die Nächste noch kalt sein, am Ende wird es drei Grad haben, als ich um 5:00 aus dem Schlafsack krieche. Aber dazwischen liegen ein paar Stunden guten Schlafs – warm dank Daunenjacke und trotz Bahnstrecke in 100 Metern Entfernung.

Etappe 2: Tschüss RAA – Hallo Ötztaler!

5:30 im Tiroler Inntal, die Sonne wärmt meinen Rücken, die Tankstellencafes öffnen erst um 6:00. Durch Hall in Tirol geht es Richtung Innsbruck, dort ist das Kaffee- und Croissant-Angebot größer. Sowohl Podio, der neue Radstore in innsbruck als auch der Cycling Hub des KTM Tirol Cycling Teams sind noch geschlossen, diesen Besuch muss ich also auf ein andermal verschieben. Sonne und Temperaturen versprechen einen schöne Tag, bei der Ausfahrt aus Innsbruck am (gut ausgebauten) Innradweg dröhnt noch ein startendes Verkehrsflugzeug über meinen Kopf, ich unterquere die Inntalautobahn und habe innerhalb von wenigen Metern wieder meine Ruhe.

Von Völs geht es über Schleichwege Richtung Kematen, die Beine bewegen sich gut, der Körper hat die Anstrengungen des Vortags erstaunlich gut weggesteckt. Ich schreibe mit Lukas Pöstlberger, der heute mit Anton Palzer die Strecke des Ötztaler Radmarathons fahren wird, wir werden uns im Laufe des Tages wohl irgendwo über den Weg laufen. In Kematen steigt die Straße an Richtung Sellrain, ich bin meine letzten Meter auf der Strecke des langen Race Around Austria und gleichzeitig auf jeder des Ötztalers – wenn auch in falscher Richtung (wobei der Ötzi in den 90er ein paar Mal auch in die andere Richtung gefahren wurde). Der Weg aufs Kühtai ist für mich Neuland – wie alles andere auch ab hier. Für mich ist dieser Umstand aufregend und erfreulich zugleich, habe ich doch in den letzten Jahren ein Faible für mir noch unbekannte Straßen und „neue Kilometer“ entwickelt. Bis Gries im Sellrain plätschert alles so vor sich hin und ich finde mich schon im Glauben, dass man aufs Kühtai mehr oder weniger locker raufkurbeln kann. Ab Gries im Sellrain werde ich aber eines besseren belehrt, die Steigung nimmt zu, die Temperaturen auch und das Gewicht meines Rads inklusive Gepäck ist noch nicht weniger geworden. Die beiden Bora-Profis donnern an mir vorbei, mir gibt das einen Motivationsschub – zumindest für ein paar hundert Meter! Flaschen auffüllen in Sankt Sigmund und hinein in die letzten Kilometer, die berühmten Tunnelgallerien erscheinen, die sich allerdings länger hinziehen als gedacht, über einige Weideroste und die letzten Meter hinauf bis zum Übergang am Kühtai. Was im Winter sicher schön aussieht, bietet – wie so viele Wintersportorte – im Sommer ein trauriges Bild, auch wenn die umliegenden Berge und Gipfel beeindrucken. Fotos vor dem Pass-Schild, Jacke an und ab in die Abfahrt – das Prozedere kennen wir ja schon.

Eine tolle und schnelle Abfahrt später finde ich mich am Kreisverkehr in Ötz wieder und donnern Auto- und LKW-Kolonnen an mir vorbei, wie es im Juli oder August nicht schlimmer sein könnte (ist es aber wahrscheinlich trotzdem…). Ich fasse den Entschluss, mich über den Radweg Richtung Sölden zu arbeiten – immerhin sind es rund 30 Kilometer und gut 600 Höhenmeter und die möchte ich nicht im Verkehr und im Schneckentempo mit Gepäck absolvieren. Nachteil dieser Entscheidung ist, dass der Radweg nicht der schnellen Linie folgt, sondern mehr oder weniger erratisch rechts, links, rauf, runter geht – landschaftlich zwar schön aber ich habe das Gefühl, nicht vom Fleck zu kommen. Die Zeit rennt und gleichzeitig scheine ich nur Meter für Meter voranzukommen und Sölden und mein heutiges Tagesziel im Passeiertal scheint immer weiter in die Ferne zu rücken. Doch ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es eigentlich erst 13:30 ist, ich bin nur schon seit acht Stunden unterwegs, langsam schlägt also doch die Müdigkeit durch.

Pausen und deren Management sind ein riesiges Thema bei Ultra-Events. Wie viele macht man, wann macht man sie am besten, was kann man alles auf dem Rad erledigen statt im Stehen? Ich bin was das betrifft jedenfalls gnadenlos untalentiert und unkoordiniert: ich mache Pause aus Müdigkeit und setze mich in eine Busstation, fahre weiter nur um einen Kilometer weiter ein Kaffeehaus zu finden, das ich für eine Stärkung nütze. Wieder im Sattel komme ich drauf, dass ich eigentlich aufs Klo muss, bleibe also wieder stehen, obwohl ich das in einem Aufwasch mit dem Kaffee erledigen hätte können. Und so geht es dahin und die Pausenzeit wird mehr und mehr und umso weniger Zeit verbringt man rollend und Kilometer machend.

War der Anblick des Winterorts Kühtai im Sommer schon bescheiden, möchte ich über Sölden hier lieber keine Worte verlieren. Die Verschandelung und Verhüttelung der Landschaft kann nicht der Gipfel der Errungenschaften der Zivilisation sein (was allerdings ein paar Kilometer in Hochgurgl ohnehin noch einmal getoppt werden wird), und etwas unterirdisch zu bauen statt an der Oberfläche Dinge zuzubetonieren, ist auch sicher keine Lösung. Also schnell durchfahren durch Sölden, hinein in den Anstieg aufs Timmelsjoch. Beim Ötztaler ist das Timmelsjoch der Henker und die letzte Prüfung für all jene, die das Ziel erreichen wollen, bei mir ist es die ultimative Prüfung bevor ich mein Tagwerk vollbracht habe (aber genauso ein Henker). Sobald man Sölden verlässt, sieht man links über sich die Straße aufs Timmelsjoch – dort muss man hin und die Straße liegt gefühlt ein paar Kilometer höher als man jetzt ist, das muss man im Kopf erstmal verdauen. Langsam kämpfe ich mich Meter für Meter nach oben – Lukas Pöstlberger und Anton Palzer kommen mir zu zweiten Mal an diesem Tag entgegen. Es ist kein sinnvoller Vergleich aber sie fahren den Ötztaler in jener Zeit, die ich für 1,5 Pässe der Strecke gebraucht habe (und viele, viele Pausen…!). In meiner Agonie bin ich noch dazu umringt von Horden an Motorradfahrern. Ich bin normalerweise ein sehr geduldiger Mensch, lasse mich von Autos und Motorrädern weder einschüchtern, noch ärgern, noch stressen. Aber an diesem Tage ist es die schiere Masse an Bikes, die lautstark an mir vorbeibeschleunigen, die mich grantig werden lassen. Ich bin wütend - auf die Veschandelung der Natur, den Lärm und die ganze Welt. Bringt nichts, ich kann die Wut auch nicht in Vortrieb umsetzen oder so. Und ich erinnere mich an den (meiner Meinung nach) Skandal des Timmelsjoch-Straßenbetreibers letztes Jahr, wo darum gebeten wurde, dass Radfahrer dem Timmelsjoch fernbleiben sollten, damit (Maut bezahlende?) Motorräder und Autos beim Überholen der Radfahrenden nicht gefährdet werden. So viele Facepalm- und Mittelfinger-Emojis kann meine Tastatur gar nicht haben, wie ich hier schreiben möchte…

Erstaunlicherweise ist ab der Mautstation absolute Ruhe und Stille eingekehrt, die Straße macht einen Schwenk weg aus dem Ötztal, es folgt die bekannte kurze Zwischenabfahrt und dann ein einsamer Kampf gegen die letzten Höhenmeter. Die Straße geht gerade aus, man sieht in der Ferne und recht weit oben eine kleine Hütte, die den Übergang markiert, außer zwei weiteren Radlern und einer Handvoll Autos ist man hier plötzlich alleine. Ich fühle in mich hinein, meine Beine sind müde, mein Kopf nach einem langen, heißen, mühsamen Tag auch. Auf dem Wahoo werden die Meter bis zur Passhöhe langsam weniger, das kann man auch noch irgendwie runterbiegen. Und sobald man nicht mehr allzu viel darüber nachdenkt, vergehen die Meter wieder und Kehre für Kehre mäandert man sich nach oben. Und dann steht man plötzlich vor dem Pass-Schild - kein Willkommens-Komitee, keine Blaskapelle, keine Fans, aber eine tiefe und manifeste Befriedigung, dass man etwas geschafft hat. Extrovertierte können hier von mir aus einen Jauchzer loslassen und auf ein Echo hoffen, ich begnüge mich in solchen Situationen damit, zufrieden in mich hinein zu lächeln!

Das Lächeln kommt aber ohnehin spätestens auf den ersten Metern der Abfahrt! Hintunter von Passo del Rombo (wir sind ab hier in Italien) geht es über zahlreiche Kehren hinunter Richtung Passeiertal. Die Abfahrt ist großartig, schnell, Kehren, Geraden, enge Kurven, langgezogene Kurven, Tunnels und immer wieder großartige Ausblicke in die umliegenden Berge. Der Blick zurück Richtung Passhöhe lässt erahnen, welche Qual dieser Anblick bei den Teilnehmer*innen des Ötztalers hervorrufen muss – auch hier sieht man bereits von weit unten den ganze Weg, der noch vor einem liegt. Aber das ist mir heute egal. In Moos im Passeier zücke ich mein Telefon, erkenne, dass die Nachttemperaturen heute wohl wieder Richtung „sehr kalt“ gehen werden und checke mir via booking.com ein Zimmer in der nächsten Ortschaft St. Leonhard in Passeier. Bis dorthin geht es nur noch bergab, ich kann also zufrieden den Tag ausklingen lassen. Radgewand im Waschbecken waschen, mich selbst duschen und herrichten, Flaschen richtig auswaschen, Powerbank und Geräte aufladen. Gute Nacht!

Etappe 3: Radwege, Radwege, Radwege

Nimmt man meine ursprünglich geplante Route her, hätte mich diese über den Jaufenpass nach Sterzing geführt und dann in Südtirol noch über Würzjoch und Furkelpass. Als ich aber in der Früh in meinem Bett aufwache, kann ich mir zwar vorstellen, mich aufs Rad zu setzen, für 4.600 Höhenmeter reicht meine Vorstellungskraft allerdings nicht aus. Ich disponiere um und suche mir eine flachere Route zurück nach Lienz, die Minimalvariante für diesen Tag hat auf 200 Kilometern dann allerdings eh noch immer knapp 2.000 Höhenmeter.

Die nette Dame an der Rezeption möchte mir etwas von meinem Nächtigungspreis zurückgeben, weil ich vor dem Frühstück abreise, kann das aber nicht, weil ja über booking.com gebucht… Stattdessen bereitet sie mir ein Lunchpaket vor, ich könne doch nicht ohne Essen weiterfahren. Mit einem kleinen Abstecher zur örtlichen Bäckerei und die Seitentaschen vollgefüllt mit Marmeladecroissants geht es die ersten gut 20 Kilometer bergab Richtung Meran. Ich drehe eine kleine Runde durch die Stadt, Meran ist ein Traum und die wenigen Mal, die ich hier war, fand ich es immer wunderschön! Nochmal rund 30 Kilometer entlang des wunderbar ausgebauten Etsch-Radwegs und man gelangt nach Bozen – eher die Industrie- bzw. Provinzhauptstadt und nicht mit riesigem Charme ausgestattet. Umso mehr Charme haben die vereinzelten und gruppenweise entgegenkommenden italienischen Radlerinnen und Radler, die merklich anders unterwegs sind als Kolleginnen und Kollege hierzulande.

Aus Bozen hinaus wird es dann plötzlich wieder laut und etwas stressig. Ich bin im Eisack-Tal gelandet, einem engen Einschnitt, in dem sich Bundesstraße, Eisenbahnlinie und Brenner-Autobahn ein intensives Match um den wenig vorhandenen Platz liefern. Dass ein Radweg hier in der Hackordnung noch eine Stufe darunter rangiert, ist klar… Richtiges Kopfzerbrechen bereitet allerdings der massive Gegenwind, der im Tal pfeift und der wohl bis Brixen – immerhin rund 50 Kilometer – nicht allzu schwächer oder besser werden wird. Es geht also zäh dahin, es ist laut, eng, der Radweg geht wiederum bergauf und bergab. Die entgegenkommenden Radlerinnen und Radler scheinen gar nicht zu bemerken, welch Privileg in Form von Rückenwind ihnen gerade zuteil wird. In Klausen besorge ich mir etwas zu trinken, dazu muss man extra in die Stadt reinfahren – erstaunlicherweise tendieren die Radwege hier, einen an der Stadt vorbei- und nicht durchzuführen. Aus touristischer Sicht kann ich das nur schwer nachvollziehen. Kurz vor Brixen darf ich einen Gastauftritt im Livestream des Race Around Niederösterreich absolvieren, ich werden von meinem 600 Kilometer-Trip zugeschaltet, während die Teilnehmer*innen des RAN gerade ihren eigenen 600 Kilometer-Trip absolvieren – wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen.

Brixen hat eine nette Altstadt, lädt aber nicht unbedingt zum Verweilen ein, über die Bundesstraße kämpft man sich Richtung Pustertal bevor man ab Mühlbach wieder in Ruhe auf dem Radweg fahren kann. Die Pustertal-Bundesstraße ist die Hauptverbindung Sterzing – Bruneck – Innichen – Osttirol und zieht damit entsprechend viel Verkehr an – fahren auf der Bundesstraße sollte man daher eher meiden oder aber zumindest von der Tageszeit abhängig machen! Umso schöner und ruhiger wird es dafür auf dem Radweg – auf einsamen Wegen über Wiesen und Felder geht es an Niedervintl und Ehrenburg vorbei, man durchfährt Sankt Lorenzen und gelangt schließlich nach Bruneck. Hier geht es noch einmal bergauf und bergab und bergauf und bergab und nochmal bergauf. Hier hat man allerdings gar nicht die Wahl ob Radweg oder Bundesstraße, auf letzterer ist nämlich in vielen Bereichen (aufgrund von Tunnels) das Radfahren verboten. Bei Olang schlägt der Radweg dann außerdem noch einmal eine Schleife gen Berg ein, man hat ein wunderbares Panorama der beginnende Dolomiten, aber die extra-Höhenmeter brauche ich an diesem Tag nicht unbedingt. Den Stausee Olang kann man am schönsten auf rund 2 Kilometern Schotter umfahren, das bringt zumindest Abwehcslung in den Tag, der an dieser Stelle schon recht lange dauert. Und während der Gegenwind des Eisacktals schon fast vergessen war, frischt neuer Wind von vorne auf und wird mich bis zum Ziel in Lienz auf stürmische Art und Weise begleiten. Für Beruhigung sorgt hingegen, dass ich die Strecke ab hier schon oft gefahren bin und gut kenne - Toblach, Innichen, österreichische Grenze, gut ausgebauter und abschüssiger Drauradweg!

Die letzten Kilometer geben mir die Möglichkeit wieder auf meinen Körper zu achten. Viel „hineinhören“ muss ich nicht mehr, schreit es doch seit einigen Stunden eh von selbst. Die Hände schmerzen, obwohl ich sehr dankbar bin, mit dem Gravellenker und vor allem den Aufliegern zusätzliche Griffpositionen zu haben. Hintern und Nacken haben auch schon bessere Zeiten erlebt und freuen sich schon aufs Absteigen. Eine WhatsApp-Nachricht von meinem Ziel in Lienz stellt mir Palatschinken mit Marmelade (in beliebiger Anzahl) in Aussicht und während ich mich in diesem Gedanken verliere, knalle ich mit dem Hinterrad gegen die Metallkante einer Brückenauffahrt und in der Sekunden merke ich, dass der Reifen die Luft verloren hat. Und so stehe ich zwei Kilometer vom Ziel entfernt mit einem platten Hinterrad da – müde, hungrig und dann doch etwas verzweifelt… Ich schieße eine Patrone in den Tubeless-Reifen, um zu sehen, ob auf schnellem Wege etwas zu holen ist, fahre ein paar Meter und rolle bald wieder auf der Felge. Auf Reifen wechseln und Tubeless-Milch-Kleckerei habe ich jetzt keine Lust mehr. Abholen lasse ich mich auch nicht – ich wollte und will jedenfalls mit Muskelkraft wieder zum Ausgangspunt meiner Tour – da hätte ich ja auch vor vielen Kilometern schon in den Zug steigen können, der mich auch nach Lienz gebracht hätte. Also schiebe ich die letzten Meter, habe dabei noch einmal die Möglichkeit, ein paar Gedanken zu sortieren und stehe dann schließlich nach 607 Kilometern und 9.230 Höhenmetern wieder vor dem Haus meiner Schwiegereltern. Mission accomplished- alles tut weh!

Epilog

Man sagt, dass sich der Körper am dritten Tag an die Belastung gewöhnt. Das mag zum Teil stimmen, obgleich der Körper ohnehin ein Wunderwerk ist, so schnell und effektiv wie dieser Belastungen wegstecken und sich auf Situationen einstellen kann. Dennoch hat sich mein Körper nach drei Tagen im Sattel nicht so angefühlt, wie ich mir das vorstelle. Und ich habe auch ein weiteres „Referenzgefühl“ von meiner Race Around Austria Challenge 2020, wo ich mich noch ganz gut erinnern kann, was mir nach 26 Stunden im Sattel (am Stück) wie und wo weh getan hat.

Ich LIEBE die Art und Weise, wie man mit dem Rad unterwegs ist, in der richtigen Geschwindigkeit vorankommt, um Meter zu machen, gleichzeitig aber genug von der Welt rundherum mitzubekommen. Ich LIEBE die Art und Weise, wie man Strecken zurücklegen kann, wenn man den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als Radzufahren, rechts und links zu treten. Ich LIEBE außerdem das tiefe Zufriedenheitsgefühl, das man verspürt, wenn man eine derartige Herausforderung geschafft hat – wobei das nicht 600 Kilometer sein müssen, das geht auch mit weitaus kleineren oder anderen Dingen!

Dennoch ist bei mir schon während des dritten Tages der Gedanke gereift, dass ich das nicht an zehn Tagen hintereinander schaffe. Wobei, schaffen würde ich es schon, aber ich will es nicht. Es würden nämlich genau diese Aspekte darunter leiden, weshalb ich solche Trips mache: stehenbleiben, fotografieren, mit Menschen reden, Dinge anschauen, Routen erforschen, die schöne Straße nehmen statt der schnellen und meinen Körper nicht zu zerstören. Wobei letzteres würde mit mehr Training und den entsprechenden Kilometern im Sattel ziemlich sicher besser und einfacher werden, aber da sind wir dann wieder bei einem anderen Punkt. Da gibt es dann wieder meine Familie und zu viele andere Dinge, die ich sehen und machen möchte (mit dem Rad und ohne), als dass ich jeden Tag trainiere. Das mögen manche als inkonsequent bezeichnen, ich nenne das mein Leben und ich möchte es genießen!

Ich werde daher im Juli alle Freunde und Bekannte anfeuern, die sich in Schönbrunn an die Startlinie des Three Peaks Bike Race stellen, danach werde ich allerdings wieder nach Hause fahren, und dann auf Urlaub mit meiner Familie und dann radeln gehen – zum Beispiel wieder auf so eine Drei-Tages-Tour durch eine Ecke des Landes, die ich vorher noch nie gesehen habe!


Die drei Etappen gesammelt in einer Collection auf Komoot: